© Foto: Volker Metzler
ANNA TILL (TASTSINN)
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Anna Till (*1983) lebt und arbeitet als freischaffende Choreografin und Tänzerin in Dresden. Sie studierte „Tanz, Kontext, Choreographie“ am HZT - Hochschulübergreifendes Zentrum für Tanz in Berlin und „Angewandte Kulturwissenschaften“ in Lüneburg. Unter dem Label situation productions entwickelt sie mit der Kulturmanagerin Bettina Lehmann Bühnenstücke in wechselnden Kooperationen mit Künstler:innen unterschiedlicher Genres. Unterstützt und koproduziert u.a. von Partnerinstitutionen wie HELLERAU in Dresden oder dem tanzhaus NRW in Düsseldorf, ist sie als Performerin tätig, realisiert Vermittlungskonzepte für Kinder und Jugendliche, unterrichtet an mehreren Hochschulen oder koordiniert Austausch- und Diskursformate im Kontext des TanzNetzDresden.
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HEIKO WOMMELSDORF (HÖRSINN)
Nach seinem Studium der Freien Kunst an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel, studierte Heiko Wommelsdorf von 2009 bis 2012 Klangskulptur und Klanginstallation bei Ulrich Eller an der HBK Braunschweig. Neben zahlreichen Stipendien sowie vielen Ausstellungen im In- und Ausland hatte Wommelsdorf von 2014 bis 2015 einen Lehrauftrag im Bereich Klangkunst an der Muthesius Kunsthochschule, Kiel.
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‣NOBODY WATCHING
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ANNA TILL
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Ein polygones Objekt bewegt sich durch die Stadt. Aus Schaumstoff, von innen bewegt, von außen beobachtet, erkundet es den Sonnenberg. Verschwunden darin: der Körper der Tänzerin und Choreografin. Als Mensch nicht mehr erkennbar, wirkt das Wesen komisch. Es gehört nicht hierher. Von Hauswand zu Hauswand, von Kante zu Wiese, zu Treppe, zu Mülleimer, zu Parkbank bewegt es sich. Ihres Sehsinns beraubt, ertastet die Performerin ihre Umgebung. Das Material, der Schaumstoff, der sie umgibt, ist dabei eine zweite Haut, die Schutz bietet aber auch den Kontakt nach Außen erschwert. Tastsinn ist der Sinn, der ´ in der Welt verortet. Indem Anna Till Informationen über das Tasten aufnimmt, erkennt sie die Temperatur einer Oberfläche, fühlt ob diese weich oder hart ist und in welcher Distanz sie sich zu jener befindet. Mithilfe des Tastens setzt sie ihren Körper, in Bezug zu dessen Umfeld.
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Photo by Stephan Loss
Photo by Johannes Richter
Photo by Stephan Loss
‣SCHALL
LEISTUNGSPEGEL
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HEIKO WOMMELSDORF
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Ob Kühl- oder Gefriergerät, Waschmaschine, Spülmaschine oder Heizkörper – solcherart Geräte bekommen ein EU-Energielabel, auf der neben der Energieeffizienzklasse der Schallleistungspegel (in dB; Dezibel) etikettiert wird. Selbst im Außenraum legen Menschen mittlerweile viel Wert auf eine Schallregulierung, weshalb sogar beim Reifenkauf für Autos mit der Lautstärke bzw. der Leisheit geworben wird. Jede Maschine einer Baustelle wird genaustens mit einem Dezibelmessgerät geprüft und mit entsprechendem Pegelwert etikettiert. In Heiko Wommelsdorfs Arbeit „Schallleistungspegel Chemnitz-Sonnenberg“ werden sogar die Geräte auf dem Sonnenberg etikettiert, die laut Richtlinie keine Nennungen finden. Das Ticken der Ampel, das Brummen der Lüftungsanlagen, das Surren der Stromkästen – sie werden gemessen und mit einem Aufkleber versehen. Um die gemessenen Orte zu finden, erhalten die Besucher:innen einen eigens für diese Arbeit gestalteten Stadtplan des Viertels mit Markierungen und weiteren Informationen.
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>> Vorstudie zum Schaumstoffarbeit
von und mit Anna Till
>> Finaler Entwurf für das
Schaumstoffkostüm, supported by
Tobias Eisenkrämer
‣DREI FRAGEN AN
ANNA TILL &
HEIKO WOMMELSDORF
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Du bist / Ihr seid nun seit einigen Wochen in Chemnitz (unterwegs):
Wie sind deine / eure Eindrücke von der Stadt? Ist dir / euch irgendwas bestimmtes aufgefallen? Warum? Welche Unterschiede siehst du / seht ihr dabei z.B. zu euren Heimatstädten Dresden und Hamburg?
Anna: "Chemnitz, das ist für mich vor allem: Viel Platz haben. Breite Straßen, große Häuser, wenig Menschen. Das lässt viel Freiraum. Ich bin ziemlich beeindruckt von all den unterschiedlichen kulturellen Initiativen, die diesen Raum nutzen um die vielfältige Subkultur zu gestalten und dabei immer einen starken Bezug zur Stadtgesellschaft Chemnitz suchen. Im Gegensatz zu Dresden, das in den letzten Jahren nahezu totsaniert wurde und überwiegend sein Barock-Erbe pflegt, sind in Chemnitz stilistische Brüche sichtbar. Ich werde viel mehr an die DDR-Vergangenheit erinnert, durch bestimmte Gebäude oder Denkmäler aus dieser Zeit. Das genieße ich auf eine eigenartige Weise. Es gibt nicht ein Bild, eine Ästhetik von Chemnitz. Chemnitz ist wie ein Puzzle bei dem mit der Zeit einzelne Puzzleteile verloren gegangen sind und durch neue ersetzt wurden. Ein Cluster ohne Zentrum."
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Heiko: "Für mich war Chemnitz ein unbeschriebenes Blatt. Das Label Raster-Noton bzw. Raster-Media kannte ich und darüber hinaus nichts bis auf die Ereignisse aus dem Jahr 2018. Im Vergleich zu Hamburg ist der extreme Leerstand hier auf dem Sonnenberg eine absolute Extreme. Leerstand gibt es in Hamburg nicht und hier stehen ganze Häuser leer. Dennoch habe ich Chemnitz begeistert kennengelernt. Die „Gegenwarten/Presences“ Ausstellung und der „Hang zur Kultur“ fielen in meine erste Chemnitz-Woche. Darüber hinaus gab es noch eine wunderbare Fahrradtour durch Chemnitz mit der Bordsteinlobby und ein herzliches Kennenlernen der Galerie Borssenanger und der Galerie OSCAR im Weltecho."
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Im Rahmen der Dialogfelder 2020 Von Sinnen widme(s)t du dich / ihr euch dem Tastsinn bzw. Hörsinn: Gibt es dabei Impressionen, die du / ihr vor allem aus dem Sonnenberg zieht? Um welche handelt es sich konkret? Wie finden sich diese in deiner / eurer Arbeit wieder?
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Anna: "Tastsinn ist der Sinn, der mich in der Welt verortet. Indem ich Informationen über das Tasten aufnehme, erkenne ich die Temperatur einer Oberfläche, fühle ob diese weich oder hart ist und in welcher Distanz ich mich zu einem Objekt befinde. Das ist erstmal unabhängig von der genauen Umgebung. Mithilfe des Tastens setze ich meinen Körper in Bezug zu dessen Umfeld. Das ist für mich entscheidend. Den Körper quasi in das Zentrum zu rücken und zu positionieren. In diesem Fall im Sonnenberg. Wo gehe ich schnell vorbei? An welcher Stelle möchte ich verweilen? Welche Oberflächenstrukturen sind mir vielleicht noch nie aufgefallen? Welche Ecken und Kanten bieten Raum um den Körper daran anzupassen, sich darin zu verkriechen? Welche Flächen sind weit und groß, so dass sie als Bühne genutzt werden können?"
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Heiko: "Ich bin als Klanginstallationskünstler seit 2007 tätig. Mein Fokus liegt seit langem auf Geräuschen des urbanen Raumes, obwohl ich außerhalb einer Galerie / eines Museums nur sehr selten ausstelle. Lüftungs-/Klimaanlagen, Heizkörper, Leuchtstoffröhren oder Wassertropfen in Fallrohren positioniere ich in Ausstellungen. Über die Einladung, direkt im urbanen Raum arbeiten zu dürfen freue ich mich deshalb sehr. Mit einem Dezibelmessgerät in der Hand habe ich viele Spaziergänge durch das Viertel gemacht, die Ergebnisse meiner Touren werden ab den 31.10. präsentiert."
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Kannst du / Könnt ihr uns jeweils einen kleinen Ausblick auf die entstehende Arbeit geben? Auf was dürfen sich Besucher:innen der Präsentationswoche vom 31.10. bis 06.11. freuen?
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Anna: "Ich möchte bei den DIALOGFELDERN etwas probieren, dass ich noch nie gemacht habe. Normalerweise zeichnet sich meine Arbeit durch Minimalismus, Genauigkeit und künstlerischen Dialog aus; außerdem produziere ich überwiegend Stücke für die (Theater-)Bühne. Dieses Mal gehe ich in den Stadtraum und beschäftige mich intensiv mit einem speziellen Material: Schaumstoff. Ich habe mir quasi ein übergroßes Kostüm als Perfomance-Partner gesucht. Das Objekt besteht aus unterschiedlichen Polygon-Formen (Konzeption und Konstruktion: Tobias Eisenkrämer) und ist ein bisschen größer als ich. Ich befinde mich innerhalb des Objektes, mein Körper verschwindet also fast komplett, bewegt aber von innen das Material. Außerdem gibt es mehrere Löcher, die ich nutze, um dem Schaumstoffwesen Arme, Beine und Kopf zu geben. Auf diese Weise erstaste ich die Stadt, den Sonnenberg."
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Heiko: "In meiner Arbeit „Schallleistungspegel Chemnitz-Sonnenberg“ wird das Ticken der Ampeln, das Brummen der Lüftungsanlagen, das Surren der Stromkästen und weitere Geräuscherzeuger im öffentlichen Raum gemessen. Mit einem Aufkleber wird der Passant darauf hingewiesen, dass es hier etwas zu hören gibt. Um die Orte zu finden, an denen ich auf dem Sonnenberg den Schallleistungspegel gemessen und Etikettiert habe, erhält man einen Stadtplan des Viertels mit Markierungen und weiteren Informationen."
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>> Dezibelmessung @ Sonnenberg,
by Heiko Wommelsdorf
‣DOKUMENTATION
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JENS AUSDERWÄSCHE
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>> "Stadtkart des Lärms
mit Heiko Wommelsdorf"